Im neuen Band „Ebenen des Narrativen in Bildimpulsen und Erzähltexten“ werden Wirkungspotentiale von Bildern empirisch untersucht. Es zeigt sich, dass die Bildgestaltung Einfluss auf den narrativen Sprachgebrauch nimmt und bei visuellen Erzählimpulsen berücksichtigt werden sollte. Dr. Laura Drepper von der Universität Paderborn über ihre Ergebnisse:

Welche Arten von Bildergeschichten haben Sie untersucht?

In meiner Arbeit habe ich mich mit gezeichneten Bildern beschäftigt, die eine Geschichte erzählen. Im Vordergrund stehen zwei Bildergeschichten: Eine selbstgezeichnete Bildergeschichte, die sich an typischen Bildergeschichten aus Schulbüchern und Unterrichtsmaterialien anlehnt, und eine Bildergeschichte aus Ausschnitten des textlosen Bilderbuchs „Die Torte ist weg!“ des niederländischen Illustrators Thé Tjong-Khing. Am Ende der Arbeit werden Bilderbücher vorgestellt, die für unterschiedliche Gestaltungsmöglichkeiten von Bildern stehen, z.B. das Bilderbuch „Die Fundsache“ von Shaun Tan. Dieses Bilderbuch zeichnet sich dadurch aus, dass sehr wenige Merkmale enthalten sind, die auf realistische Konzeptionen und Strukturen unserer Lebenswelt zurückzuführen sind.

Was sind Ihre zentralen Erkenntnisse? Wie müssen Bilder gestaltet sein, damit sie höheren Erzählanreiz haben?

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Der Vergleich der Erzählungen zu einer selbstgezeichneten Bildergeschichte – angelehnt an Bildergeschichten aus Schulmaterialien – und der Bildergeschichte aus dem textlosen Bilderbuch „Die Torte ist weg!“ zeigt, dass ein Kind eine bessere Erzählung ausgehend von Bildern aus „Die Torte ist weg!“ verfasst: Die Erzählungen weisen mehr grammatische Narrationsmarker (z.B. Präteritum) auf, eine umfassende Darstellung der fiktiven Erzählwelt (z.B. durch die Einführung von Figuren, Raum und Zeit), eine stärkere narrative Struktur durch den Aufbau von Orientierung, Komplikation und Auflösung sowie einen häufigeren Gebrauch von poetisch-evozierenden Sprachgebrauchsmustern (z.B. die Verwendung von literarischen Sprachformen wie Eines schönen Sommermorgens ergab es sich, dass…). Die beiden Bildergeschichten unterscheiden sich in ihrer Gestaltung: Die selbstgezeichnete Bildergeschichte hat einen stärkeren Bezug zur alltäglichen Lebenswelt (z.B. Geburtstag feiern), die Bildergeschichte zu „Die Torte ist weg!“ ist stärker phantastisch gestaltet und ästhetisch ansprechender. In sprachlich-narrativen Lernprozessen sollten daher phantastisch gestaltete und ästhetisch anspruchsvolle Bilder eingesetzt werden, da sie für Kinder einen höheren Erzählanreiz haben. Um Bilder auf ihr Potential als Erzählanlass zu analysieren, kann das abgeleitete Gestaltungskontinuum genutzt werden: Bilder mit einer starken Ausprägung der visuellen Narration und einer magischen Gestaltung der Handlungen, Figuren und Räume bieten für Kinder einen hohen Erzählanreiz.

Sie sprechen von einem „Gestaltungskontinuum“, das Sie festgestellt haben. Worin besteht das?

Das Gestaltungskontinuum für narratoästhetische Bilder erfasst vier Kategorien der Bildgestaltung: Die Ausprägung der visuellen Narration, die Handlungsdarstellung, die Figurendarstellung und die Raumdarstellung. Die visuelle Narration differenziert zwischen einer starken und schwachen Ausprägung für die Gestaltung der visuellen Erzählinstanz, der Verwendung von bildkompositorischen Narrationsmarkern und der Verwendung von bildinhaltlichen Narrationsmarkern. Mit der visuellen Erzählinstanz werden Merkmale wie die Einstellung oder Perspektive auf das Bild erfasst. Bildkompositorische Narrationsmarker beinhalten z.B. die Darstellung von Bewegungsabläufen durch eine schräge oder gerade Haltung der Figuren. Und mit bildinhaltlichen Narrationsmarkern werden beispielsweise visuelle Leitmotive, die als roter Faden immer wieder in der Geschichte auftauchen, bestimmt.

Das Kontinuum zur Darstellung der Handlung, der Figuren und des Raums erstreckt sich von einer lebensweltlichen zu einer phantastischen Gestaltung und wird durch drei bzw. vier Abstufungen ausdifferenziert. Alle drei Darstellungsformen (Handlung, Figuren, Raum) können entweder literarisiert, fingiert oder magisch sein: Literarisierte Darstellungen repräsentieren etwas real Geschehenes, wie z.B. die Erfindung der Glühbirne durch Edison oder die bildliche Darstellung einer Figur als Einstein. Fingierte Darstellungen erfüllen die Konzeptionen der Realität, verweisen aber nicht auf etwas explizit Stattgefundenes. Als fingierte Handlung könnte z.B. der Diebstahl einer Torte auf einer Geburtstagsfeier visualisiert werden. Eine magische Darstellung greift auf phantastische Konzeptionen zurück, z.B. das Fliegen auf einem Teppich oder ein Dorf aus fliegenden Schiffen. Zusätzlich zu den drei Darstellungsformen können personifizierte Figuren, wenn Tiere oder Gegenstände vermenschlicht werden, sowie minimalistische Räume angeführt werden. Von einem minimalistischen Raum kann gesprochen werden, wenn nur durch wenige Elemente, wie einzelne Gräser oder einen einzelnen Baum, das räumliche Umfeld angedeutet, aber nicht vollständig skizziert wird. Für die verschiedenen Abstufungen werden anhand aktueller Bilderbücher prototypische Beispiele gegeben, die als Orientierung für die Analyse von Bildern dienen sollen.

Wenn Sie eine Checkliste für Lehrende für die Praxis aus den Erkenntnissen der Studie zusammenstellen würden: Welche Punkte würden Sie darin aufnehmen?

•         Die Gestaltung der Bilder nimmt Einfluss auf die Erzählfähigkeiten der Kinder.

•         Bilder sollten bewusst ausgewählt werden, wenn sie als visuelle Erzählanlässe fungieren.

•         Nicht alle Bilder stellen einen geeigneten visuellen Erzählanlass dar.

•         Bilder in sprachlich-narrativen Lernprozessen sollten phantastisch gestaltet und ästhetisch anspruchsvoll sein.

•         Bilder aus (textlosen) Bilderbüchern können sich sehr gut als Erzählanlass in sprachlich-narrativen Lernprozessen eignen. 

•         Das Angebot von Bildergeschichten über szenische Bilder zu einzelnen Bildimpulsen bietet die Möglichkeit zur Differenzierung.