Die Neuauflage des Klassikers "Führen und führen lassen" ist erschienen. Dr. Alexander Wick und Dr. Bernd Blessin sind die Autoren des bewährten Standardwerks. Dr. Wick ist Professor für BWL, insb. Personalwirtschaft an der Internationalen Berufsakademie Darmstadt. Seine Forschungsschwerpunkte sind Personalauswahl, Mitarbeiterbindung, virtuelle Kooperation sowie Kompetenzdiagnostik und -entwicklung. Er spricht im Interview über Veränderungs- und Entscheidungsprozesse und darüber, was erfolgreiche Führung heute ausmacht.

In der Neuauflage von "Führen und führen lassen" schreiben Sie „Es gibt keine Veränderung ohne Widerstand!“ Welche Tipps geben Sie als erfahrener Wirtschaftspsychologe Unternehmen, diese Widerstände zu überwinden?

Widerstand ist eine Interpretation und zwar eine eher negative, wenn sie von der anderen Seite formuliert wird und eine positive, wenn sie von der eigenen Seite formuliert wird. Insofern ist es zentral, ob sich die Unternehmensführung und das Management als Einheit mit den operativen Führungskräften und den Mitarbeiter:innen sieht oder sie eher als „andere Seite“ wahrnimmt. Leisten „Gegner“ Widerstand, wird man ihn brechen wollen. Leistet man selbst Widerstand ist das ein Zeichen von Werttreue und Identifikation mit dem Ganzen. Wie man Widerstand wahrnimmt, liegt demnach oft eher im Auge des Betrachters als im Handeln der Akteure begründet. Insofern ist die Aussage ein bisschen polemisch formuliert.

Widerstand kann durchaus die Abwehr eines gut in einem produktiven Gleichgewicht ruhenden Systems sein, das sich gegen Einflüsse wehrt, von denen zu erwarten ist, dass sie eher zu geminderter Leistung führen. So kann das System seine Produktivität bewahren im Angesicht von schädlichen Profilierungsmaßnahmen neuer Führungskräfte oder ganz einfach schlechter strategischer Entscheidungen „oben“.

Wobei hier nicht gesagt sein soll, dass man sich immer oben irrt. Es soll gesagt sein, dass Beharrlichkeit nicht einfach problematisch ist, sondern manchmal auch hilfreich sein kann. Also: Erstmal sehen, woher die Beharrlichkeit rührt, in was für Werten, Überzeugungen und Erfahrungen sie fußt, bevor über „bösen“ Widerstand gesprochen wird.

Was aber richtig ist: Wann immer von den Betroffenen als zweckmäßig wahrgenommene Zustände geändert werden sollen, wird es Bestrebungen geben, diese Zustände zu verteidigen. Und das sollte nicht nur Führungskräften, sondern im Prinzip allen klar sein.

Sie vertreten die These, „Fachkräftemangel ist immer die Schuld der Anderen“. Wer trägt heutzutage die Verantwortung für den aktuellen Fachkräftemangel?

Verantwortung basiert auf einer einfachen Vorstellung von Kausalität. Sich mit Kausalität zu befassen, ist ein großer Fortschritt gegenüber dem traditionellen Fatalismus, der höchstens im Metaphysischen nach Ursachen suchte, nicht aber in der konkreten Lebenswelt. Die Vorstellung von Kausalität steckt ganz tief in uns drin und das ist auch gut so. Wie sonst sollten wir uns anstrengen, uns bemühen und solche Emotionen wie Stolz empfinden können? Aber oft ist unsere Vorstellung von Kausalität geprägt durch Denker:innen aus Zeiten, in denen die Welt überschaubarer wirkte, weil man noch so wenig von ihr sehen konnte.

Aus einer systemorientierten Sicht greift die Vorstellung einer einfachen Kausalität zu kurz. Da ist z.B. die Geschichte mit dem Huhn und dem Ei. Was war zuerst da, ist die Kausalität des anderen? Ähnlich unterkomplex ist die Überlegung, wer „wirklich verantwortlich“ ist für einen gesellschaftlichen Zustand. Eigentlich ist es die Gesellschaft insgesamt mitsamt ihrer Geschichte. Und genau diese Einsicht eröffnet uns die Möglichkeit, Verantwortung auch abzuschieben.

Natürlich kann nicht eine einzelne Person Corona in der Welt überwinden, indem sie sich impfen lässt oder Abstand hält. Aber als Teil des Ganzen, der Gesellschaft, kann jeder sein Teil dazu beitragen. Beides sollte man im Blick bewahren. Das ist manchmal nicht einfach. Aber notwendig, um nicht Opfer einer Übervereinfachung zu werden. Und genau eine solche übermäßige Vereinfachung wird durch diesen kernigen Satz ausgedrückt: „Schuld sind immer die anderen“. Ein interessantes Attributionsmuster, das uns hilft, unser Selbstbild zu wahren oder sogar das Bild, das Andere von uns haben. Wenn es glaubhaft ist. Üblich ist auch, dass man sich oft genug für Erfolge durchaus als verantwortlich sieht…nur für die Misserfolge und so auch hier für das Problem des Fachkräftemangels nicht.

Jeder zweckmäßige Ausbildungsplatz, der nicht eingerichtet wird, trägt ebenso dazu bei wie die zeitliche Befristung bei geringer Bezahlung für Nachwuchskräfte wie auch die überspezifizierte Ausschreibung in der irrigen Vorstellung, sich nur ein Kompetenzprofil wünschen zu brauchen, um es auch zu bekommen. Wer sich wünscht, dass der Arbeitskräftemarkt alles zu liefern habe, egal, welche Vorstellungen man äußert, „produziert“ Fachkräftemangel. Zumindest zu einem Teil. Und auch wenn in dieser Hinsicht ein Unternehmen alles richtig macht: Es ist dann der eine, der alleine Corona (oder hier eben den Fachkräftemangel) nicht besiegen kann.

Fässer wie Geburtenraten, Renteneintrittsalter, Zuwanderung und Bildungsgleichheit brauchen da gar nicht aufgemacht zu werden. Könnten aber.

Sie sagen, Personalbeschaffung ist zu wichtig, um sie den Führungskräften zu überlassen. Wie sieht Ihrer Meinung nach der ideale Entscheidungsprozess aus?

Woher soll denn eine Führungskraft wissen, welche Kompetenzen notwendig sind, um eine Aufgabe zu lösen? Nur weil sie sich diese Kompetenzen wünscht? Oder ein ganzheitliches Bild von Eignung hat? Oder „Erfahrung“ hat? Hierzu sei dann auf meine Antwort zum Fachkräftemangel verwiesen: Wünschen allein hilft nicht (immer).

Man braucht eine solide Anforderungsermittlung, in die durchaus neben vielen anderen Faktoren auch die Wünsche der Führungskräfte eingehen sollten. Dann wählen professionelle Entscheider aus der Personalabteilung aus, welche der Interessenten (über deren Ansprache in diesem Zusammenhang auch zu sprechen wäre) prinzipiell geeignet sind. Im Idealfall hat man dann drei oder vier Kandidatinnen, unter denen dann die Führungskraft auf Basis Ihrer „Erfahrung“, „Menschenkenntnis“ und dem „Nasenfaktor“ auswählen kann. Da kann sie nichts falsch machen, aber alles richtig. Andere Möglichkeiten haben sie auch oft gar nicht. Zumindest nicht so professionelle und abgesicherte wie Profis der Personalwirtschaft, also die Personalabteilung – wenn das Unternehmen sich da wirklich um Professionalität bemüht.

In der Regel haben Führungskräfte keine oder wenige Kenntnisse über tragfähige Eignungsdiagnostik und sind aufgrund der häufigen Anforderung, schnelle Entscheidungen zu treffen auch gar nicht in der Lage, die notwendige Sorgfalt für die Beurteilung der Eignung von Bewerber:innen aufzubringen. Wobei das eher eine Aussage über den Durchschnitt der Führungskräfte ist. Einzelfälle gibt es natürlich durchaus, die dieser Aufgabe gut gewachsen sind, weil sie tragfähige Eignungsdiagnostik kennen und anwenden.

Und auch bei diesem Gespräch, in dem die Führungskraft dann auswählen darf, nach dem was sie kann: intuitiv, nach Erfahrung und Menschenkenntnis, sollte ein professioneller Personaler dabei sein, dass das nicht allzu „individuell“ wird. Diese Überlegungen sollen kein Misstrauen gegenüber den Führungskräften ausdrücken. Sie können eine Beurteilung, ob die zukünftige Zusammenarbeit angenehm sein wird, durchaus besser feststellen als die Personaler:innen. Es geht eher darum: Wer kann was? Es geht also um Professionalität. Und hier ist Aufgrund der Professionalisierung des Personalwesens in den letzten Jahrzehnten durchaus davon auszugehen, dass die eignungsdiagnostischen Kompetenzen eher bei den Personaler:innen liegen, als bei der Führungskraft.

Sie haben sich intensiv mit der Frage auseinandergesetzt, was eine erfolgreiche Führung ausmacht. Haben Sie den EINEN Erfolgsfaktor identifizieren können?

Naja, Führung ist vielgestaltig. Wenn Sie einen Faktor in der Führungskraft meinen, dann ist es eigentlich ganz einfach. Aus einer konstruktivistischen Sicht – und können wir Menschen ernsthaft eine andere einnehmen, wenn es um soziale Interaktionen geht? – ist es ganz einfach: Erfolg hat, wem es gelingt, relevante andere Personen davon zu überzeugen, dass sie/er erfolgreich ist. Ein einziger Faktor. Aber in diesem liegt die ganze Welt.

Neu im Buch ist u.a. ein Teilkapitel über New Work. Was ist das und was haben Führungskräfte damit zu tun?

New Work ist, wenn Arbeit für den Arbeitenden einen Sinn in sich trägt. Und sowohl bei der Vermittlung von Sinn also auch bei der Organisation der täglichen Arbeit sind Führungskräfte mittendrin. Sie können New Work fördern und behindern.

Wichtig dabei ist das „empowerment“, genauer gesagt, das psychologische Empowerment. Das bedeutet, den Arbeitenden zu vermitteln, dass sie nicht nur die Verantwortung für das, was sie bearbeiten, zugeschoben bekommen, auch wenn sie wenig Einfluss darauf haben, wie sie dabei vorgehen. Sondern dass sie Aufgaben bearbeiten, die tatsächlich sinnvoll sind und ihre Verantwortung dadurch entsteht, dass sie wirklich Einfluss darauf oder sogar Macht darüber haben, wie sie an diese Aufgaben herangehen. Manchmal besteht der Sinn sogar allein darin, diese faktische Verantwortlichkeit zu haben, Handeln zu können, statt Verrichtungen auszuüben.

Traditionell besteht die Aufgabe der Führungskräfte eher darin, den Handlungsspielraum ihrer Mitarbeiter:innen einzuschränken oder zumindest darüber zu wachen, dass vorgegebene Einschränkungen auch eingehalten werden (Regeln, Standards, Prozesse, Vorgaben, Handreichungen, technische Vorgaben und Einrichtungen). Bei New Work sind die Führungskräfte diejenigen, die den erweiterten Handlungsspielraum der Mitarbeitenden verteidigen und entwickeln sollen und zumindest zu Beginn der New Work-Aktivitäten den Mitarbeitenden auch vermitteln sollen, was es bedeutet, tatsächlich empowered zu sein. Spannend ist, dass New Work nur ziemlich wenig mit Digitalisierung zu tun hat. Diese ist nur ein Faktor, der New Work erleichtern kann – aber auch beeinträchtigen. Also nicht das Übliche: „It’s the digital revolution, stupid“.

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