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Veröffentlicht: März 13, 2023|Kategorien Wirtschaft|Tags: wirtschaft , weltverbrauchertag , vernarrtinwissen , uvkverlag , utb_verlag_studium , sozialpolitik , politikwissenschaft , politik , Ökonomie , novitaeten , marktwirtschaft , lesestoff , interview , inflationsrate , inflation , gesellschaft , finanzmarkt
Steigende Lebensmittelpreise, hohe Energiekosten, Zinserhöhungen: Die Inflation hat uns weiter im Griff und zwingt viele Bürger:innen, den Gürtel enger zu schnallen. Am heutigen Weltverbrauchertag gibt uns unser Autor Thieß Petersen (Grundwissen Inflation) im Interview einen Ausblick auf das, was uns erwartet:
Haben wir das Schlimmste bei der Inflation überstanden?
Das ist durchaus möglich. Bereits im Herbst 2021 lag die monatliche Inflationsrate (Basisjahr 2015) in Deutschland zwischen 4 und 5 Prozent. Seit dem Angriff Russlands auf die Ukraine sind die monatlichen Inflationsraten weiter gestiegen. Im September, Oktober und November 2022 betrugen sie jeweils 10 Prozent. Seitdem liegen die Preissteigerungsraten bei rund 8,5 Prozent. Grund für den leichten Rückgang sind vor allem die sinkenden Energiepreise. Sie waren der Haupttreiber der Inflation im letzten Jahr. Energieeinsparungen und ein milder Winter dämpfen die Nachfrage nach fossilen Energieträgern – und das wirkt wiederum inflationssenkend.
Allerdings werden uns auch in diesem Jahr hohe Energiepreise begleiten. Hinzu kommt die Gefahr von Lieferengpässen, die sich aus geopolitischen Konflikten und der in China noch nicht bewältigten Coronapandemie resultieren. Die aktuellen Prognosen gehen deshalb davon aus, dass die deutsche Inflationsrate 2023 im Jahresdurchschnitt bei rund 6 Prozent liegen könnte – also weit über dem Zwei-Prozent-Inflationsziel der Europäischen Zentralbank.
Wann rechnen Sie mit der Rückkehr zum Inflationsziel von 2 Prozent?
Ich befürchte, dass wir in Deutschland frühestens 2025 wieder eine jährliche Inflationsrate von 2 Prozent sehen werden. Zwar versucht die Europäische Zentralbank mit ihren Leitzinserhöhungen die Inflation zu senken. Allerdings sind die geldpolitischen Instrumente bei einer Inflation, die das Resultat von Angebotsverknappungen ist, nur bedingt erfolgreich.Hier klicken zum Weiterlesen ...
Höhere Zinsen sind bei einer nachfrageinduzierten Inflation in der Lage, die Inflation zu dämpfen, weil sie den Grund der steigenden Preise – einen zu starken Anstieg der Güternachfrage – direkt adressieren. Höhere Zinsen verringern die Investitionen der Unternehmen und die kreditfinanzierten Konsumkäufe. Das bewirkt einen Rückgang der gesamtwirtschaftlichen Güternachfrage, und damit gehen auch die Preise zurück.
Bei einem Angebotsmangel haben höhere Zinsen hingegen keinen spürbaren inflationssenkenden Effekt. Im Gegenteil: Höhere Zinsen führen zu einem Rückgang der Investitionen. Das wirkt sich mittelfristig negativ auf die gesamtwirtschaftlichen Produktionskapazitäten aus und schwächt so das Güterangebot.
Sie stellen in Ihrem Buch die Inflationsaussichten für die kommenden Jahre dar. Was erwartet uns?
Ich gehe davon aus, dass der angebotsinduzierte Inflationsdruck in den kommenden Jahren weltweit zunehmen wird.
Die letzten drei Jahrzehnte waren von sehr günstigen wirtschaftlichen Rahmenbedingungen geprägt: Die voranschreitende Globalisierung hat durch den Import günstiger Vorleistungen und Konsumgüter für niedrige Preise gesorgt. Die sogenannten Baby-Boomer waren im erwerbsfähigen Alter, was zu einem hohen Arbeitskräfteangebot führte. Und natürliche Rohstoffe standen uns relativ günstig zur Verfügung.
Alle drei Wachstumstreiber entwickeln sich nun wachstumsdämpfend – und zwar gleichzeitig.
In der Weltwirtschaft macht sich ein zunehmender Protektionismus breit. Industrienationen versuchen so, sich dem Wettbewerbsdruck der aufstrebenden Volkswirtschaften zu entziehen. Zudem versuchen immer mehr Nationen, mit ihrer Handelspolitik auch ihre geopolitischen Ziele zu erreichen, also z. B. mehr Einfluss in bestimmten Regionen und eine technologische Vorherrschaft. Dafür sind sie bereit, Sanktionen, Exportverbote und ähnliche Instrumente einzusetzen. Das bedeutet, dass der inflationsdämpfende Effekt der internationalen Arbeitsteilung nachlässt.
Weltweit geht der Anteil der Menschen im erwerbsfähigen Alter zurück – besonders stark in Europa, aber auch im Rest der Welt. Damit wird der Arbeitskräftemangel größer. Zudem hat die Alterung der Bevölkerung einen negativen Effekt auf die Arbeitsproduktivität und auf die Innovationskraft. Das alles dämpft die gesamtwirtschaftlichen Produktionsmöglichkeiten und wirkt daher inflationserhöhend.
Schließlich erhöhen der voranschreitende Klimawandel und die erforderlichen Maßnahmen zur ökologischen Transformation der Wirtschaft die Preise. Wenn klimabedingte Ereignisse wie Stürme, Überschwemmungen und Starkregen zu Schäden an der Infrastruktur führen, gehen die gesamtwirtschaftlichen Produktionsmöglichkeiten zurück. Wassermangel und höhere Temperaturen beeinträchtigen die Ernteerträge. Auch in der Industrie schränkt ein Wassermangel die Produktionsmöglichkeiten ein, z. B., wenn den Produktionsanlagen Kühlwasser fehlt oder Niedrigwasser Lieferketten unterbricht.
Zudem erfordert die ökologische Transformation erhebliche Investitionen, um Wirtschaft und Gesellschaft klimaneutral machen. Diese Investitionen binden Produktionsfaktoren, die dann nicht mehr für die Herstellung von Konsumgütern zur Verfügung stehen. Das führt zu steigenden Preisen.
Im Ergebnis ist also davon auszugehen, dass Angebotsverknappungen weltweit zu einem höheren Inflationsdruck führen. Und weil die Geldpolitik bei einer angebotsinduzierten Inflation nur bedingt erfolgreich ist, wird die klassische wirtschaftspolitische Arbeitsteilung, nach der ausschließlich die Zentralbank für die Preisniveaustabilität verantwortlich ist, zukünftig nicht mehr gelten. Inflationsbekämpfung wird vielmehr zu einer Aufgabe, die die gesamte Wirtschaftspolitik fordert. Das verlangt eine entsprechende Abstimmung zwischen den wirtschaftspolitischen Akteuren, vor allem eine stärkere Koordinierung der Geld- und Fiskalpolitik.
Unser Autor
Dr. Thieß Petersen arbeitet bei der Bertelsmann Stiftung in Gütersloh und lehrt an der Europa-Universität Viadrina Frankfurt (Oder).
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Die Vereinten Nationen erklärten 2007 den 15. September zum Internationalen Tag der Demokratie. Sein Ziel ist die Förderung und Verteidigung von Grundsätzen der Demokratie. Aber wie steht es aktuell um unsere Demokratie? Welche Gefahren gibt es? 3 Fragen an unseren Autor, den Politikwissenschaftler Dr. Martin Oppelt:
Was sind die wichtigsten Grundsätze, die unsere Demokratie ausmachen?
Martin Oppelt: In Deutschland wie in den meisten europäischen Ländern hat sich ab der Französischen Revolution Ende des 18. Jahrhunderts (spätestens aber nach dem Sieg der Alliierten über den Faschismus und Nationalsozialismus 1945) die Form der liberalen Demokratie durchgesetzt. Im Zuge der europäischen Aufklärung und des Kampfes gegen Feudalismus und Absolutismus wurden der antiken demokratischen Idee der politischen Gleichheit erfolgreich die modernen Prinzipien des Liberalismus an die Seite gestellt, allen voran die Idee der Freiheit des Individuums. Heutige Demokratien zeichnet die gleichzeitige Existenz dezidiert demokratischer Prinzipien, etwa der Volkssouveränität, und spezifisch liberaler Prinzipien, zum Beispiel die per Verfassung garantierten Menschen- und Bürgerinnenrechte, aus. Da sich diese Prinzipien eigentlich widersprechen, führt dies notwendig zu Konflikten, mit denen demokratische Gesellschaften umzugehen lernen mussten. Die Idee der individuellen Freiheit etwa dient oft der Rechtfertigung sozialer und ökonomischer Ungleichheiten, die jedoch im Widerspruch zur demokratischen Idee der Gleichheit stehen, zumal dort, wo sie sich in ungleiche politische Einflussmöglichkeiten übersetzen. Gerade der spezifische Umgang mit dem „demokratischen Paradox“ der Freiheit und Gleichheit, wie es die Politikwissenschaftlerin Chantal Mouffe bezeichnet hat, macht nun die Eigenheit der heutigen Demokratien aus.
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Als einer der wichtigsten Grundsätze kann daher die institutionell garantierte Existenz einer demokratischen Öffentlichkeit angesehen werden, die immer wieder neu den Streit darüber austragen muss, wie die Prinzipien der Demokratie umzusetzen sind und wo sie verletzt werden. Außerdem fungiert eine lebendige Zivilgesellschaft als notwendiges kritisches Korrektiv der Demokratie mit Blick auf historische Verbrechen wie den Kolonialismus sowie auf gegenwärtige Gefahren durch antidemokratische Entwicklungen in Staat und Gesellschaft.
Rechts- und Linksradikalisierung, Reichsbürgerbewegung, Antisemitismus – Wo sehen Sie aktuell die größte Gefahr für unsere Demokratie?
Martin Oppelt: Die größte Gefahr für die Demokratie geht weltweit eindeutig von rechtsradikalen, antisemitischen, rassistischen und antifeministischen Kräften aus, die die in den letzten Jahrhunderten hart erkämpften politischen Rechte und Freiheiten von Frauen*, Jüd*innen, Schwarzen, Indigenen, People of Color (BIPoC) und LGBTQIA+-Personen rückabwickeln wollen. Die Behauptung, wonach rechte und linke politische Bewegungen sich in ihren Extremen wie ein Hufeisen berührten und somit für die Demokratie gleichgefährlich wären, ist wissenschaftlich nicht haltbar und lenkt davon ab, dass die Feinde der Demokratie ganz klar rechts stehen. Wo linke Politiken für die Ausweitung und Vertiefung demokratischer Prinzipien, Rechte und Freiheiten für prinzipiell alle Menschen kämpfen, wollen rechte Kräfte diese einem ethnisch und exklusiv definierten Volk vorbehalten. Dafür sehen sie auch den Einsatz von Gewalt gegen Menschengruppen als legitim an, die sie als minderwertig begreifen. Besonders erschreckend ist, dass rechtspopulistische und rechtsextreme Parteien in den letzten Jahren in immer mehr Parlamente einziehen konnten. Umso wichtiger ist daher – neben der Existenz einer schlagkräftigen antifaschistischen Zivilgesellschaft – dass sich alle demokratischen Parteien entschieden dem Kampf gegen Rechts widmen und nicht etwa aus wahltaktischem Kalkül Koalitionen eingehen und zur schleichenden Legitimierung und Normalisierung menschenfeindlichen Gedankenguts beitragen.
Kann die Demokratie angesichts der wachsenden Autokratien (Putin, Erdoğan, Orbán, Bolsonaro usw.) überleben?
Martin Oppelt: Das Besondere an den genannten Autokratien ist, dass sie nicht immer offen gegen demokratische Ideen und Institutionen vorgehen. Im Gegenteil inszenieren sie sich oft erfolgreich als Demokratien und bemänteln ihre antidemokratischen Repressionen gegen politische Gegnerinnen und vermeintliche „Volksfeinde“ als Ausführung des souveränen Volkswillens. Viktor Orbán etwa prägte dahingehend den Begriff der „illiberalen Demokratie“, der erst gar nicht verbergen will, all die Prinzipien abzulehnen, die dem Schutz vulnerabler Minderheiten dienen. Hier sind die Staats- und Regierungschefinnen der demokratischen Staatengemeinschaft aufgefordert, sich der Legitimierung dieser Autokratien etwa aufgrund von Wirtschaftsdeals zu entziehen und wo nötig auch Sanktionen umzusetzen. Da man sich hierauf aber nicht verlassen sollte, braucht es einmal mehr lebendige kritische Öffentlichkeiten, die Druck auf ihre jeweiligen Regierungen ausüben.
Autoreninformation
Dr. Martin Oppelt ist Politikwissenschaftler mit dem Schwerpunkt Politische Theorie und Ideengeschichte. Aktuell forscht er in dem von der Deutschen Forschungsgemeinschaft (DFG) geförderten Projekt „Freund, Feind, Verräter? Eine Genealogie des Verrats im demokratischen Denken“. Zuvor hat der die Professur für Political Philosophy and Theory an der Hochschule für Politik/ TU München vertreten. Beim UVK Verlag/utb ist 2021 sein Buch „Demokratie? Frag doch einfach!“ erschienen.
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Veröffentlicht: März 17, 2022|Kategorien Soziologie|Tags: vernarrtinwissen , uvkverlag , utb_verlag_studium , soziologie , sozialwissenschaften , sozialpolitik , politik , novitaeten , neuheiten , interview , gesellschaft , corona , armutsforschung , armut
Armut ist greifbar! Sie ist aber auch vielschichtig. Prof. Dr. Andreas Koch lehrt und forscht am Fachbereich Soziologie und Geographie der Universität Salzburg sowie am Zentrum für Ethik und Armutsforschung. Im Frage-Antwort-Stil beleuchtet er in seinem Buch u.a. historische, ökonomische und politische sowie gesellschaftliche und geografische Aspekte der Armut. Dabei geht er auch auf die aktuelle wissenschaftliche Debatte und Formen der Armutsbekämpfung ein.
Wie definieren Sie Armut?
Armut ist für mich ein Zustand, in dem eine kritische Beziehungsungleichheit herrscht. Es gibt viele Arten von Beziehungsungleichheit, zwischen Frauen und Männern, Kindern und Erwachsenen, Migrant:innen und Gebürtigen – und auch innerhalb dieser Gruppen. Ein absolutes Maß für Beziehungsungleichheit bzw. Beziehungsgleichheit existiert nicht. Sie beruht auf der Durchsetzungsmacht der jeweils privilegierten Positionen.
Woher stammen diese Ungleichheiten in der Beziehung?
Beziehungsungleichheit ist in Gesellschaften strukturell angelegt und als solche für weitere Ungleichheiten wie Chancen-, Leistungs- und Teilhabeungleichheit verantwortlich. Eine angemessene Definition von Armut fordert nun nicht, eine umfassende Beziehungsgleichheit herzustellen. Dies würde dem liberalen Prinzip individueller Freiheit widersprechen. Das Ziel besteht aber darin, sachlich und sozial nicht zu rechtfertigende Unterschiede zu kritisieren - und Wege aufzuzeigen, wie sie reduziert werden können.
Wie äußern sich die Unterschiede?
Bedürftigkeit und Not sind in der Regel das Ergebnis von Benachteiligungen der Beziehungen unter den Menschen. Mangelnde Gesundheitsversorgung, prekäre Beschäftigungsverhältnisse, Niedriglohn, Wohnungslosigkeit, Bildungsexklusion und Umweltbeeinträchtigungen beruhen wesentlich auf der Verteidigung individuell und gruppenspezifisch erwirkter Privilegien, die jedoch gesamtgesellschaftlich nicht legitimierbar sind.
Das Nachhaltigkeitsziel SDG 1 ‚keine Armut‘ fordert, bis 2030 „Armut in allen ihren Formen und überall“ zu beenden. Für wie wahrscheinlich halten Sie es, dass dieses Ziel erreicht wird?
Armut in all ihren Formen und überall bis 2030 zu beenden, ist ein politisches Statement, das eine symbolische Wirkung entfaltet. Ob und wie weit es gelingen wird, dieses Nachhaltigkeitsziel zu erreichen, hängt wesentlich von den wirtschaftspolitischen Rahmenbedingungen und dem Willen der Gesellschaft ab. In einer auf Leistung und Konkurrenz ausgerichteten Gesellschaft bleibt die Verwirklichung des Ziels unwahrscheinlich. Manche halten Leistungsgerechtigkeit für ein faires Beurteilungskriterium, einige stehen dem Wachstumsglauben fatalistisch oder opportunistisch gegenüber, und wieder andere ziehen sich stillschweigend zurück.
Was kann Sozialpolitik in einer solchen Lage erreichen?
In dieser Gemengelage zeigt sich die Kraft der Solidarität mit armutsbetroffenen Menschen punktuell (z.B. Spenden), aber nicht nachhaltig. Sozialpolitik ähnelt einem Reparaturbetrieb zur Aufrechterhaltung der bestehenden materiellen Klassenverhältnisse. Ihr fehlt jedoch der erklärte gemeinsame Wille zum Umbau dieser Verhältnisse. Und ihr fehlt die Kraft resilienter Armutsbewältigung, die in Krisenzeiten nicht nur kurzfristig Geld bereitstellt, sondern Regeln als Leitplanken errichtet, wie zum Beispiel kommunalen Wohnraum oder lokale Subsistenzwirtschaft.
Sie gehen in Ihrem Buch auch auf Strategien der Armutsbekämpfung ein. Welche sind Ihrer Meinung nach die wichtigsten?
Die wichtigste Strategie ist, Armut lokal zu bewältigen. Auch wenn wir zweifellos von einer globalisierten und digitalisierten Umwelt umgeben sind, so spielt sich das physische Leben doch an konkreten Orten mit ihren materiellen Gegebenheiten und sozialen Normen ab. Diese sozial-ökologischen Verhältnisse legen nicht fest, wie wir zu leben haben, vielmehr hängt es von den individuellen Wahrnehmungen und Vorstellungen ab, welche Einschränkungen und Gelegenheiten uns unsere Lebensorte bieten. Die individuellen Wahrnehmungen und Vorstellungen wiederum sind von den Verfügungsspielräumen geprägt, die jeder und jedem Einzelnen von uns durch Geld, Eigentum, soziale Beziehungen, kulturelle Werte und Infrastrukturen zur Verfügung stehen. Da diese Güter zwischen Menschen und Räumen sehr ungleich verteilt sind, bieten sich lokale Maßnahmen des sozialen Ausgleichs an. Hierzu gehören genossenschaftliche Wohnprojekte, die gemeinschaftliche Produktion von z.B. Lebensmittel oder die gemeinschaftliche Nutzung von Gebrauchsgegenständen.
Sie berufen sich damit auf das Prinzip der Subsidiarität, Verantwortung dahin zu delegieren, wo sie entsteht. ...
...ja, aber für eine erfolgversprechende Umsetzung dezentraler Armutsbewältigung braucht es als politische Strategie eine Ergänzung territorialer Räume um Netzwerke. Orte verbinden sich miteinander, um zu tauschen – Produkte, Wissen, Erfahrung – oder sich gegenseitig zu unterstützen. Die bestehende Ausschließlichkeit von territorial-administrativen Räumen führt zu einer Inklusion von Leistungen nach innen und einer Exklusion jener, die nicht dazugehören. Zudem verschärft es den Konkurrenzdruck von Gemeinden, Ländern, Staaten um Einwohner und Unternehmen.
Den Medien zufolge hat die Armut in Deutschland durch die Corona-Pandemie einen neuen Höchststand erreicht. Wer ist in Deutschland von der Corona-Pandemie und ihren Auswirkungen besonders betroffen?
Die Corona-Pandemie ist für viele Menschen ein tiefer Einschnitt in ihren Lebensalltag gewesen, der bis heute anhält. Einkommenskürzung oder gar Jobverlust auf der einen Seite, Überstunden auf der anderen; eingeschränkte Mobilität mit Home-Office und Home-Schooling, demgegenüber hochgradige Präsenz in den so genannten systemrelevanten Berufen. Obwohl die Krise also viele getroffen hat, zeigt sich zugleich: Armut ist ein strukturelles Problem und kein Krisenphänomen. In Deutschland lag die Armutsquote im Pandemiejahr 2020 bei 16,1 Prozent und ist gegenüber dem Vorjahr um 0,2 Punkte gestiegen. Die Coronapolitik mit u.a. Kurzarbeitergeld und Konjunkturprogramm hat durchaus Wirkung gezeigt. Es fehlte aber eine nachhaltige Armutspolitik in den Bereichen Wohnen (Miete und Energiekosten), der Versorgung mit Lebensmitteln, der Unterstützung von Menschen in Ausbildung, usw. Große Haushalte, Alleinerziehende, Erwerbslose oder Menschen mit Migrationshintergrund sind von den Maßnahmen zur Eindämmung der Pandemie besonders betroffen.
Wer sollte Ihr Buch „Armut? Klare Antworten aus erster Hand!“ lesen?
Im Mittelpunkt des Buches steht die Auseinandersetzung mit der Funktionalisierung von Armut und der damit einhergehenden Instrumentalisierung armutsbetroffener Menschen. Es argumentiert gegen die Annahme, Armut sei Ursache oder Folge von sozialer Schwäche. Dieser Standpunkt wird schwerpunktmäßig aus einer historischen und geographischen Perspektive vertreten und dabei aufgezeigt, wie sehr Raum und Zeit Konstanten unterschiedlicher armutspolitischer Debatten sind. Daher richtet sich das Buch an alle, die sich für diese Zusammenhänge interessieren.
Das Buch legt zudem einen geographischen Schwerpunkt auf Deutschland und Europa und blendet eine globale Perspektive damit bewusst aus. Dafür nehmen die unterschiedlichen Formen und Ausprägungen von Armut und ihre Behandlung im Rahmen der Nachhaltigen Entwicklungsziele der Vereinten Nationen einen größeren Raum ein.
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Veröffentlicht: Juli 01, 2021|Kategorien Medienwissenschaft|Tags: vernarrtinwissen , utb_verlag_studium , sozialemedien , politik , medienethik , medien , kommunikation , interview , globalisierung , gesellschaft
Ein Interview mit Dr. Anne Grüne und Prof. Kai Hafez von der Universität Erfurt über die Blockaden der globalen Kommunikation
Gibt es eigentlich schon eine funktionierende „Globale Kommunikation?“
Die gibt es durchaus, und zwar in allen Feldern: in den klassischen Medien, in sozialen Medien ebenso wie in der grenzüberschreitenden Interaktion von politischen Systemen, im Bereich der Wirtschaftskommunikation wie auch in der weiteren Gesellschaft und zwischen Individuen, im Alltag, im Tourismus usw. Das Problem ist aber, dass sich Umfang und Qualität der Kommunikation nicht so einheitlich positiv entwickeln, wie oft gedacht wird, wenn davon die Rede ist, dass wir in einem „Zeitalter zunehmender globaler Vernetzung“ leben. Mythos und Realität vermischen sich hier stark und in vielen Bereichen bleibt unsere globale Kommunikationsfähigkeit hinter den dynamischen Austauschbeziehungen gerade im globalen Wirtschafts- und Warenverkehr zurück. Eine Welt vernetzt sich, mit der wir aber nicht immer hinreichend im Austausch stehen. Daraus entsteht bei vielen Menschen Unverständnis und Widerstand – eine Sprachlosigkeit, die gerade rechte politische Kräfte für sich zu nutzen suchen, wenn sie ihre neonationalistischen Projekte betreiben. Die kommunikative Bewältigung des globalen Wandels gelingt nur sehr begrenzt. Wir zeichnen diese Probleme theoretisch nach und versuchen, den empirischen Forschungsstand darzulegen. Wir glauben, dass ein solcher Überblick nötig ist, um die Fort- wie auch die Rückschritte der globalen Beziehungen besser zu verstehen.
Wer sind die Träger dieser Kommunikation?
In unserem Buch sprechen wir hier zum Teil von globalen Informations- und Kommunikationseliten, die wir von den oft stärker lokal verhafteten Menschen abgrenzen. Wir verwenden dabei keinen traditionellen Elitenbegriff, sondern einen dynamischen. Elite kann jede/r sein, Sie, ich, wir, gerade die neuen digitalen Medien eröffnen hier neue Chancen. Der Elitenbegriff weist aber durchaus darauf hin, dass globalen Kommunikationskompetenz auch eine Ressource von Macht ist, die durchaus gleichwertig mit den klassischen Kapitalsorten wie „Gewalt“ und „Kapital“ sein kann. Hier liegt aber zugleich aus unserer Sicht ein Problem, da die Fixierung auf „Medien“ – Presse, Rundfunk, digitale und soziale Medien – als Träger der globalen Moderne – in sozialen Bewegungen, in Lebenswelten und zunehmend auch in politischen Institutionen – die direkte zwischenmenschliche Kommunikation immer mehr in den Hintergrund drängt. Unsere Analyse zeigt aber, dass in nahezu allen Bereichen der Gesellschaft globale Kommunikation de facto in hohem Maße auf diesen direkten Begegnungen basiert und diese Welt in nicht geringem Maße stabilisiert – man denke nur an die klassische Diplomatie. Die Vorstellung einer zunehmenden und wünschenswerten Mediatisierung von Globalisierung bietet daher neben Chancen auch zahlreiche Risiken. Wir beobachten diese Welt mehr als dass wir mit ihr interagieren. Wir bilden eine Weltgesellschaft, die zugleich ohne einen Weltstaat auskommen muss und in der wir möglicherweise eher die Potentiale großer und kleiner Weltgemeinschaften im Blick behalten sollten, die durch direkte Interaktion entstehen können: mit „dem Fremden“ reden statt über ihn oder sie; den anderen als theoretisches Subjekt ernst nehmen, statt ihn oder sie nur als empirische Evidenzmasse zu behandeln. Die Blockaden der globalen Kommunikation entstehen auch durch eine Technik- und Medienfixierung der Moderne, die eine Aneignung des Globalen in letzter Instanz unmöglich macht.
Stehen nicht unterschiedliche kulturelle Konzepte von Gesellschaften und der Kommunikation in ihnen einer funktionierenden globalen Kommunikation entgegen?
Genau das halten wir für völlig unbelegt und wissenschaftlich überholt. „Kultur“, „Nation“ und „Religion“ werden kommunikativ konstruiert und wenn kulturelle und rassistische Feindbilder existieren hat dies am Ende wenig mit einer mythologisierten Essenz – einem vermeintlichen asiatischen, westlichen, islamischen Wesen usw. – und vielmehr mit konkreten Akteuren und ihren Interpretationen und Deutungen der Welt zu tun. Es gibt am Ende keine einheitlichen Identitäten, sondern bestenfalls kommunizierte Stereotope, die uns eine Unvereinbarkeit der Welt suggerieren wollen. Gerade die großen Institutionen wie die Massenmedien spielen hier eine Rolle als hochproblematische Weltbildapparate, die uns zu oft eine chaotische Außenwelt suggerieren und dabei im Grunde vor allem ihre eigenen Vorurteile und die ihrer Politiker*innen und Mediennutzer*innen widerspiegeln. Die weißen Flecken unserer Nachrichtengeographie sind unglaublich beharrlich und lassen auch in der Moderne uralte Klischees hochgradig virulent erscheinen. Ob „böse Chinesen“, „faule Griechen“ oder „fanatische Muslime“: wir kriegen das alles jeden Tag frei Haus in unser Wohnzimmer geliefert, wir verstehen es aber oft nicht. Natürlich gibt es auch exzellente Auslandsberichterstattung – aber Umfang und Qualität könnten oft besser sein und die ehemalige revisionistische Haltung, dass die Massenmedien – und übrigens auch die Sozialen Medien – an der Globalisierung strukturell scheitern, hat sich längst als neue orthodoxe Lehrmeinung in der Wissenschaft durchgesetzt. Auch das diskutieren wir in unserem Buch und wir versuchen zumindest ansatzweise alternative Entwicklungswege für die Zukunft aufzuzeigen.
Was muss geschehen, um eine professionelle, auf journalistischen Maßstäben basierende, globale Kommunikation möglich zu machen?
Die Massenmedien müssen sich aus der Umklammerung durch den Nationalstaat befreien. Ein transnationales Mediensystem – ein Weltmediensystem – gibt es ja bis heute überhaupt nicht. Die Vorzeigesender wie CNN oder Al-Jazeera sind alle fest in der Hand nationaler Eigentümer, die zwar einen globalen Anspruch hegen, im Grunde aber sehr deutlich ihre jeweiligen nationalen Agenden verfolgen. Wenn „journalistische Maßstäbe“ bedeutet, dass Medien die Welt objektiv betrachten sollten, dann müssen wir mehr, ausgewogener und viel kontextbezogener über die Welt berichten. Die „Domestizierung“ von Nachrichten, das zeigen wir in dem Handbuch, ist ein weltweit von Forscher*innen nachgewiesenes Phänomen, das überall ähnlich abläuft und hochgradig „schräge“ Weltbilder erzeugt. Komplizierte Prozesse wie den Aufstieg Chinas zur Weltmacht oder die kulturelle Bewältigung des Postkolonialismus in der islamischen Welt können wir so nicht verstehen. Eine Reform der Medien ist erforderlich, die nicht nur die journalistische Profession verändert (Stichwort interkulturelle Kompetenz und Ausbildung), sondern auch die Bindung der Medien an kapitalistische Absatzinteressen und den starken Einfluss staatlicher politischer Propaganda hinterfragt. Ein transnationales Mediensystem wäre hier ein Fernziel – eine stärkere Förderung einer kosmopolitischen Medienethik ein durchaus realistisches Nahziel.
Autoreninformation:
Prof. Dr. Kai Hafez ist Inhaber der Professur für Kommunikationswissenschaft mit dem Schwerpunkt Vergleichende Analyse von Mediensystemen / Kommunikationskulturen an der Philosophischen Fakultät der Universität Erfurt.
Dr. Anne Grüne ist wissenschaftliche Mitarbeiterin am Seminar für Kommunikationswissenschaft der Philosophischen Fakultät der Universität Erfurt. -
Am 10. März 2021 hat das Bundeskabinett die Weiterentwicklung der Deutschen Nachhaltigkeitsstrategie beschlossen. Kanzlerin Merkel fordert im Rahmen der Weiterentwicklung der Deutschen Nachhaltigkeitsstrategie 2021 mehr Tempo bei der Umsetzung der Nachhaltigkeitsziele.
Was bringt die Nachhaltigkeitsstrategie Weiterentwicklung 2021?
Auf diese Frage antwortet unser Autor Prof. Dr. Michael von Hauff als ehemaliger Inhaber des Lehrstuhls für Volkswirtschaftslehre, insbesondere Wirtschaftspolitik und internationale Wirtschaftsbeziehungen an der TU Kaiserslautern. Seine Forschungsschwerpunkte liegen in der Umwelt- und Entwicklungsökonomie.
Auf dem Nachhaltigkeitsgipfel 2019 hat der Generalsekretär der Vereinten Nationen Antonio Guterres weltweit die „Decade of Action and Delivery for Sustainable Development“ ausgerufen. Das begründet er damit, dass die Gefahr besteht, – besser: sich abzeichnet – dass Ziele der Agenda 2030 verfehlt werden. Im März dieses Jahres erschien die deutsche „Nachhaltigkeitsstrategie Weiterentwicklung 2021“, in der diese Befürchtung ebenfalls klar zum Ausdruck kommt. Während das Vorwort der bisherigen Ausgaben zur Nachhaltigkeits-strategie durch ein „Lob der guten Taten“ gekennzeichnet war, kommt die Bundesregierung zu einer beachtlichen und wünschenswerten Ehrlichkeit. Im Vorwort stellt die Bundeskanzlerin Merkel fest:
„Um die Ziele der Deutschen Nachhaltigkeitsstrategie und der Agenda 2030 zu erreichen, müssen wir den Weg einer wirklich anspruchsvollen Transformation gehen, der wichtige Bereiche wie Energie, Kreislaufwirtschaft, Wohnen, Verkehr, Ernährung und Landwirtschaft umfasst. In Deutschland wollen wir mit der Weiterentwicklung unserer Nachhaltigkeitsstrategie und insbesondere mit Bildung, Forschung und Innovationen den Transformationsprozess voran-bringen.“
Zunächst ist festzustellen, dass die Weiterentwicklung 2021 durchaus positive Impulse enthält. Ein neuer Akzent sind die politischen Maßnahmen in Reaktion auf die Corona-Krise die auf nationaler, europäischer und internationaler Ebene an der Agenda 2030 und ihren globalen Nachhaltigkeitszielen ausgerichtet werden muss. Weiterhin wurde das vielfach zitierte Prinzip aus der UN-Resolution von 2015 explizit hervorgehoben: „leave no one behind.“ Eine wichtige, aber nicht ganz neue Forderung, ist jene nach mehr Kohärenz in der Politik. Positiv zu werten ist auch die weitere Ausdifferenzierung der Strategie: Die Weiterentwicklung 2021 enthält nun 72 Indikatoren und Ziele in 39 Bereichen und wurde somit im Verhältnis von ursprünglich 63 Indikatoren deutlich erweitert. Es kamen seit der Aktualisierung 2018 folgende Indikatoren hinzu:
Globale Pandemie-Prävention, Frauen in Führungspositionen im öffentlichen Dienst des Bundes, Väterbeteiligung beim Elterngeld, Breitbandausbau, Kulturerbe/Zugang zum Kulturerbe und weltweiter Bodenschutz
Ein weiterer wichtiger Akzent ist die Nennung von Transformationsbereichen. In ihnen werden mehrere Ziele zusammengeführt, indem die Wechselwirkungen der Ziele betont werden. Das soll an dem zuerst genannten Transformationsbe-reich verdeutlicht werden: Transformationsbereich Menschliches Wohlbefinden und Fähigkeiten zur sozialen Gerechtigkeit verknüpft die SDGs 1, 3, 4, 5, 8, 9 und 10.
Es gibt aber auch die Fortschreibung von Inkonsistenten. Um diese anzugehen bzw. auszuräumen benötigt die Bundesregierung mehr Mut. Das soll an einem aktuellen Problem verdeutlicht werden. In dem Sustainable Development Goal 8 wird ein „dauerhaftes, breitenwirksames und nachhaltiges Wirtschaftswachstum“ gefordert. Der Indikator ist das Bruttoinlandsprodukt pro Kopf. In der Literatur wird seit der ersten deutschen Nachhaltigkeitsstrategie aus dem Jahr 2002 kritisiert, dass das BIP pro Kopf nicht den Anforderungen nachhaltiger Entwicklung entspricht, da weder die ökologischen noch die sozialen Effekte berücksichtigt werden. In dem Ziel 13 werden „umgehend Maßnahmen zur Bekämpfung des Klimawandels“ gefordert. Dabei ist hinreichend bekannt, dass mehr Wachstum, wie es wegen der zunehmenden wirtschaftlichen Probleme durch die Pandemie gefordert wird, den Klimawandel verschärft. Die Konsequenz daraus wäre, dass neben den Indikator Bruttoinlandsprodukt pro Kopf der Nationale Wohlfahrtsindex (NWI) gestellt wird. Da das BIP pro Kopf schneller steigt als der NWI sollte analysiert werden, welche Gründe hierfür vorliegen. Hier könnte dann die nachhaltige Politikkohärenz umgesetzt werden.