sozialpolitik
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Veröffentlicht: März 13, 2023|Kategorien Wirtschaft|Tags: wirtschaft , weltverbrauchertag , vernarrtinwissen , uvkverlag , utb_verlag_studium , sozialpolitik , politikwissenschaft , politik , Ökonomie , novitaeten , marktwirtschaft , lesestoff , interview , inflationsrate , inflation , gesellschaft , finanzmarkt
Steigende Lebensmittelpreise, hohe Energiekosten, Zinserhöhungen: Die Inflation hat uns weiter im Griff und zwingt viele Bürger:innen, den Gürtel enger zu schnallen. Am heutigen Weltverbrauchertag gibt uns unser Autor Thieß Petersen (Grundwissen Inflation) im Interview einen Ausblick auf das, was uns erwartet:
Haben wir das Schlimmste bei der Inflation überstanden?
Das ist durchaus möglich. Bereits im Herbst 2021 lag die monatliche Inflationsrate (Basisjahr 2015) in Deutschland zwischen 4 und 5 Prozent. Seit dem Angriff Russlands auf die Ukraine sind die monatlichen Inflationsraten weiter gestiegen. Im September, Oktober und November 2022 betrugen sie jeweils 10 Prozent. Seitdem liegen die Preissteigerungsraten bei rund 8,5 Prozent. Grund für den leichten Rückgang sind vor allem die sinkenden Energiepreise. Sie waren der Haupttreiber der Inflation im letzten Jahr. Energieeinsparungen und ein milder Winter dämpfen die Nachfrage nach fossilen Energieträgern – und das wirkt wiederum inflationssenkend.
Allerdings werden uns auch in diesem Jahr hohe Energiepreise begleiten. Hinzu kommt die Gefahr von Lieferengpässen, die sich aus geopolitischen Konflikten und der in China noch nicht bewältigten Coronapandemie resultieren. Die aktuellen Prognosen gehen deshalb davon aus, dass die deutsche Inflationsrate 2023 im Jahresdurchschnitt bei rund 6 Prozent liegen könnte – also weit über dem Zwei-Prozent-Inflationsziel der Europäischen Zentralbank.
Wann rechnen Sie mit der Rückkehr zum Inflationsziel von 2 Prozent?
Ich befürchte, dass wir in Deutschland frühestens 2025 wieder eine jährliche Inflationsrate von 2 Prozent sehen werden. Zwar versucht die Europäische Zentralbank mit ihren Leitzinserhöhungen die Inflation zu senken. Allerdings sind die geldpolitischen Instrumente bei einer Inflation, die das Resultat von Angebotsverknappungen ist, nur bedingt erfolgreich.Hier klicken zum Weiterlesen ...
Höhere Zinsen sind bei einer nachfrageinduzierten Inflation in der Lage, die Inflation zu dämpfen, weil sie den Grund der steigenden Preise – einen zu starken Anstieg der Güternachfrage – direkt adressieren. Höhere Zinsen verringern die Investitionen der Unternehmen und die kreditfinanzierten Konsumkäufe. Das bewirkt einen Rückgang der gesamtwirtschaftlichen Güternachfrage, und damit gehen auch die Preise zurück.
Bei einem Angebotsmangel haben höhere Zinsen hingegen keinen spürbaren inflationssenkenden Effekt. Im Gegenteil: Höhere Zinsen führen zu einem Rückgang der Investitionen. Das wirkt sich mittelfristig negativ auf die gesamtwirtschaftlichen Produktionskapazitäten aus und schwächt so das Güterangebot.
Sie stellen in Ihrem Buch die Inflationsaussichten für die kommenden Jahre dar. Was erwartet uns?
Ich gehe davon aus, dass der angebotsinduzierte Inflationsdruck in den kommenden Jahren weltweit zunehmen wird.
Die letzten drei Jahrzehnte waren von sehr günstigen wirtschaftlichen Rahmenbedingungen geprägt: Die voranschreitende Globalisierung hat durch den Import günstiger Vorleistungen und Konsumgüter für niedrige Preise gesorgt. Die sogenannten Baby-Boomer waren im erwerbsfähigen Alter, was zu einem hohen Arbeitskräfteangebot führte. Und natürliche Rohstoffe standen uns relativ günstig zur Verfügung.
Alle drei Wachstumstreiber entwickeln sich nun wachstumsdämpfend – und zwar gleichzeitig.
In der Weltwirtschaft macht sich ein zunehmender Protektionismus breit. Industrienationen versuchen so, sich dem Wettbewerbsdruck der aufstrebenden Volkswirtschaften zu entziehen. Zudem versuchen immer mehr Nationen, mit ihrer Handelspolitik auch ihre geopolitischen Ziele zu erreichen, also z. B. mehr Einfluss in bestimmten Regionen und eine technologische Vorherrschaft. Dafür sind sie bereit, Sanktionen, Exportverbote und ähnliche Instrumente einzusetzen. Das bedeutet, dass der inflationsdämpfende Effekt der internationalen Arbeitsteilung nachlässt.
Weltweit geht der Anteil der Menschen im erwerbsfähigen Alter zurück – besonders stark in Europa, aber auch im Rest der Welt. Damit wird der Arbeitskräftemangel größer. Zudem hat die Alterung der Bevölkerung einen negativen Effekt auf die Arbeitsproduktivität und auf die Innovationskraft. Das alles dämpft die gesamtwirtschaftlichen Produktionsmöglichkeiten und wirkt daher inflationserhöhend.
Schließlich erhöhen der voranschreitende Klimawandel und die erforderlichen Maßnahmen zur ökologischen Transformation der Wirtschaft die Preise. Wenn klimabedingte Ereignisse wie Stürme, Überschwemmungen und Starkregen zu Schäden an der Infrastruktur führen, gehen die gesamtwirtschaftlichen Produktionsmöglichkeiten zurück. Wassermangel und höhere Temperaturen beeinträchtigen die Ernteerträge. Auch in der Industrie schränkt ein Wassermangel die Produktionsmöglichkeiten ein, z. B., wenn den Produktionsanlagen Kühlwasser fehlt oder Niedrigwasser Lieferketten unterbricht.
Zudem erfordert die ökologische Transformation erhebliche Investitionen, um Wirtschaft und Gesellschaft klimaneutral machen. Diese Investitionen binden Produktionsfaktoren, die dann nicht mehr für die Herstellung von Konsumgütern zur Verfügung stehen. Das führt zu steigenden Preisen.
Im Ergebnis ist also davon auszugehen, dass Angebotsverknappungen weltweit zu einem höheren Inflationsdruck führen. Und weil die Geldpolitik bei einer angebotsinduzierten Inflation nur bedingt erfolgreich ist, wird die klassische wirtschaftspolitische Arbeitsteilung, nach der ausschließlich die Zentralbank für die Preisniveaustabilität verantwortlich ist, zukünftig nicht mehr gelten. Inflationsbekämpfung wird vielmehr zu einer Aufgabe, die die gesamte Wirtschaftspolitik fordert. Das verlangt eine entsprechende Abstimmung zwischen den wirtschaftspolitischen Akteuren, vor allem eine stärkere Koordinierung der Geld- und Fiskalpolitik.
Unser Autor
Dr. Thieß Petersen arbeitet bei der Bertelsmann Stiftung in Gütersloh und lehrt an der Europa-Universität Viadrina Frankfurt (Oder).
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Veröffentlicht: März 17, 2022|Kategorien Soziologie|Tags: vernarrtinwissen , uvkverlag , utb_verlag_studium , soziologie , sozialwissenschaften , sozialpolitik , politik , novitaeten , neuheiten , interview , gesellschaft , corona , armutsforschung , armut
Armut ist greifbar! Sie ist aber auch vielschichtig. Prof. Dr. Andreas Koch lehrt und forscht am Fachbereich Soziologie und Geographie der Universität Salzburg sowie am Zentrum für Ethik und Armutsforschung. Im Frage-Antwort-Stil beleuchtet er in seinem Buch u.a. historische, ökonomische und politische sowie gesellschaftliche und geografische Aspekte der Armut. Dabei geht er auch auf die aktuelle wissenschaftliche Debatte und Formen der Armutsbekämpfung ein.
Wie definieren Sie Armut?
Armut ist für mich ein Zustand, in dem eine kritische Beziehungsungleichheit herrscht. Es gibt viele Arten von Beziehungsungleichheit, zwischen Frauen und Männern, Kindern und Erwachsenen, Migrant:innen und Gebürtigen – und auch innerhalb dieser Gruppen. Ein absolutes Maß für Beziehungsungleichheit bzw. Beziehungsgleichheit existiert nicht. Sie beruht auf der Durchsetzungsmacht der jeweils privilegierten Positionen.
Woher stammen diese Ungleichheiten in der Beziehung?
Beziehungsungleichheit ist in Gesellschaften strukturell angelegt und als solche für weitere Ungleichheiten wie Chancen-, Leistungs- und Teilhabeungleichheit verantwortlich. Eine angemessene Definition von Armut fordert nun nicht, eine umfassende Beziehungsgleichheit herzustellen. Dies würde dem liberalen Prinzip individueller Freiheit widersprechen. Das Ziel besteht aber darin, sachlich und sozial nicht zu rechtfertigende Unterschiede zu kritisieren - und Wege aufzuzeigen, wie sie reduziert werden können.
Wie äußern sich die Unterschiede?
Bedürftigkeit und Not sind in der Regel das Ergebnis von Benachteiligungen der Beziehungen unter den Menschen. Mangelnde Gesundheitsversorgung, prekäre Beschäftigungsverhältnisse, Niedriglohn, Wohnungslosigkeit, Bildungsexklusion und Umweltbeeinträchtigungen beruhen wesentlich auf der Verteidigung individuell und gruppenspezifisch erwirkter Privilegien, die jedoch gesamtgesellschaftlich nicht legitimierbar sind.
Das Nachhaltigkeitsziel SDG 1 ‚keine Armut‘ fordert, bis 2030 „Armut in allen ihren Formen und überall“ zu beenden. Für wie wahrscheinlich halten Sie es, dass dieses Ziel erreicht wird?
Armut in all ihren Formen und überall bis 2030 zu beenden, ist ein politisches Statement, das eine symbolische Wirkung entfaltet. Ob und wie weit es gelingen wird, dieses Nachhaltigkeitsziel zu erreichen, hängt wesentlich von den wirtschaftspolitischen Rahmenbedingungen und dem Willen der Gesellschaft ab. In einer auf Leistung und Konkurrenz ausgerichteten Gesellschaft bleibt die Verwirklichung des Ziels unwahrscheinlich. Manche halten Leistungsgerechtigkeit für ein faires Beurteilungskriterium, einige stehen dem Wachstumsglauben fatalistisch oder opportunistisch gegenüber, und wieder andere ziehen sich stillschweigend zurück.
Was kann Sozialpolitik in einer solchen Lage erreichen?
In dieser Gemengelage zeigt sich die Kraft der Solidarität mit armutsbetroffenen Menschen punktuell (z.B. Spenden), aber nicht nachhaltig. Sozialpolitik ähnelt einem Reparaturbetrieb zur Aufrechterhaltung der bestehenden materiellen Klassenverhältnisse. Ihr fehlt jedoch der erklärte gemeinsame Wille zum Umbau dieser Verhältnisse. Und ihr fehlt die Kraft resilienter Armutsbewältigung, die in Krisenzeiten nicht nur kurzfristig Geld bereitstellt, sondern Regeln als Leitplanken errichtet, wie zum Beispiel kommunalen Wohnraum oder lokale Subsistenzwirtschaft.
Sie gehen in Ihrem Buch auch auf Strategien der Armutsbekämpfung ein. Welche sind Ihrer Meinung nach die wichtigsten?
Die wichtigste Strategie ist, Armut lokal zu bewältigen. Auch wenn wir zweifellos von einer globalisierten und digitalisierten Umwelt umgeben sind, so spielt sich das physische Leben doch an konkreten Orten mit ihren materiellen Gegebenheiten und sozialen Normen ab. Diese sozial-ökologischen Verhältnisse legen nicht fest, wie wir zu leben haben, vielmehr hängt es von den individuellen Wahrnehmungen und Vorstellungen ab, welche Einschränkungen und Gelegenheiten uns unsere Lebensorte bieten. Die individuellen Wahrnehmungen und Vorstellungen wiederum sind von den Verfügungsspielräumen geprägt, die jeder und jedem Einzelnen von uns durch Geld, Eigentum, soziale Beziehungen, kulturelle Werte und Infrastrukturen zur Verfügung stehen. Da diese Güter zwischen Menschen und Räumen sehr ungleich verteilt sind, bieten sich lokale Maßnahmen des sozialen Ausgleichs an. Hierzu gehören genossenschaftliche Wohnprojekte, die gemeinschaftliche Produktion von z.B. Lebensmittel oder die gemeinschaftliche Nutzung von Gebrauchsgegenständen.
Sie berufen sich damit auf das Prinzip der Subsidiarität, Verantwortung dahin zu delegieren, wo sie entsteht. ...
...ja, aber für eine erfolgversprechende Umsetzung dezentraler Armutsbewältigung braucht es als politische Strategie eine Ergänzung territorialer Räume um Netzwerke. Orte verbinden sich miteinander, um zu tauschen – Produkte, Wissen, Erfahrung – oder sich gegenseitig zu unterstützen. Die bestehende Ausschließlichkeit von territorial-administrativen Räumen führt zu einer Inklusion von Leistungen nach innen und einer Exklusion jener, die nicht dazugehören. Zudem verschärft es den Konkurrenzdruck von Gemeinden, Ländern, Staaten um Einwohner und Unternehmen.
Den Medien zufolge hat die Armut in Deutschland durch die Corona-Pandemie einen neuen Höchststand erreicht. Wer ist in Deutschland von der Corona-Pandemie und ihren Auswirkungen besonders betroffen?
Die Corona-Pandemie ist für viele Menschen ein tiefer Einschnitt in ihren Lebensalltag gewesen, der bis heute anhält. Einkommenskürzung oder gar Jobverlust auf der einen Seite, Überstunden auf der anderen; eingeschränkte Mobilität mit Home-Office und Home-Schooling, demgegenüber hochgradige Präsenz in den so genannten systemrelevanten Berufen. Obwohl die Krise also viele getroffen hat, zeigt sich zugleich: Armut ist ein strukturelles Problem und kein Krisenphänomen. In Deutschland lag die Armutsquote im Pandemiejahr 2020 bei 16,1 Prozent und ist gegenüber dem Vorjahr um 0,2 Punkte gestiegen. Die Coronapolitik mit u.a. Kurzarbeitergeld und Konjunkturprogramm hat durchaus Wirkung gezeigt. Es fehlte aber eine nachhaltige Armutspolitik in den Bereichen Wohnen (Miete und Energiekosten), der Versorgung mit Lebensmitteln, der Unterstützung von Menschen in Ausbildung, usw. Große Haushalte, Alleinerziehende, Erwerbslose oder Menschen mit Migrationshintergrund sind von den Maßnahmen zur Eindämmung der Pandemie besonders betroffen.
Wer sollte Ihr Buch „Armut? Klare Antworten aus erster Hand!“ lesen?
Im Mittelpunkt des Buches steht die Auseinandersetzung mit der Funktionalisierung von Armut und der damit einhergehenden Instrumentalisierung armutsbetroffener Menschen. Es argumentiert gegen die Annahme, Armut sei Ursache oder Folge von sozialer Schwäche. Dieser Standpunkt wird schwerpunktmäßig aus einer historischen und geographischen Perspektive vertreten und dabei aufgezeigt, wie sehr Raum und Zeit Konstanten unterschiedlicher armutspolitischer Debatten sind. Daher richtet sich das Buch an alle, die sich für diese Zusammenhänge interessieren.
Das Buch legt zudem einen geographischen Schwerpunkt auf Deutschland und Europa und blendet eine globale Perspektive damit bewusst aus. Dafür nehmen die unterschiedlichen Formen und Ausprägungen von Armut und ihre Behandlung im Rahmen der Nachhaltigen Entwicklungsziele der Vereinten Nationen einen größeren Raum ein.